Hedy Lamarr

Hedwig Eva Maria Kiesler, Schönheitsikone, Schauspielerin und Erfinderin, hat während des Zweiten Weltkriegs eine Steuerung für Torpedos entwickelt, die eine höhere Trefferquote erzielen sollte, aber nicht zur Anwendung kam. Erst viel später wird die Idee als Basis für die heutige WLAN-Technologie aufgegriffen und genutzt. Die Graphic Novel erzählt ihre Geschichte beginnend mit ihrer Kindheit und Jugend in Österreich, über ihre spätere Kariere in Hollywood als Hedy Lamarr, bis hin zu ihrem Tod im Jahr 2000.

Hedy Lamarr, Cover der Graphic Novel

Ich hätte mir in dem Band noch mehr Einblick in die Technik erwünscht, ein paar mehr Seiten „Sendung mit der Maus“, wie genau das mit den Torpedos funktionieren sollte. In dem Punkt scheinen die Autoren wohl uns Lesern auch nicht so recht etwas zuzutrauen? Aber dies kann man ja woanders nochmal nachschlagen. Im Wesentlichen geht es in dem Comic um verpasste Chancen im Leben, um die Vor- und Nachteile von gut-aussehenden Frauen in der damals Männer-dominierten Medienwelt, um Überheblichkeit, ums Abgestempelt-Sein (einer Lamarrs frühen Filme zeigt den ersten weiblichen Orgasmus der Filmgeschichte, welcher das Image ihres restliches Lebens prägte), Doppelmoral und darüber, dass das alles selbst mir besten Grundvoraussetzungen nicht spurlos an einem vorübergeht. Auch wenn die ersten Seiten noch etwas bemüht wirken, entwickelt sich der Band zu einer interessanten und auch tragischen Geschichte. Sehr gut gemacht und lesenswert!

Ist das Thema Schnee von gestern? Wohl kaum. Die Weinsteins dieser Welt sind immer noch da. Aber es öffnet sich gerade eine weitere Front auf der genau gegenüberliegenden Seite. Da gibt es Kreise, für die es außerhalb der Vorstellungskraft liegt, dass gut aussehende Menschen auch ein emanzipiertes Leben führen oder womöglich sogar Feministen sind. Da gibt es große Diskussionen, selbst wenn fiktive (animierte) Figuren zu gut aussehen (siehe die aktuelle Debatte um das mit Sexappeal aufgeladene koreanische Computerspiel „Stellar Blade“). Und dann gibt es Uglyfication in Serien, Filmen und Spielen. Mir fällt da der Satz ein „It’s always the people with no magic, trying to tell you what to do with yours“. Am liebsten möchte man wohl noch Traumwelten regulieren. Bis zu einem entspannten Umgang mit der Thematik zwischen Übergriffigkeit und der neuen Spießigkeit ist es wohl noch ein weiter Weg.

Hedy Lamarr – Wienerin, Hollywoodstar, Erfinderin
von Sylvain Dorange und William Roy
Hardcover, 176 Seiten, koloriert
Bahoe Books, 28 EUR

Ergänzender Lesetipp: die Graphic Novel „Schönheit“ von Hubert und dem Künstlerteam Kerascoët beschäftigt sich in anderer Herangehensweise auf schwarzhumorige Art und Weise mit dem Thema. Erschienen bei Reprodukt.

Time before time

Zeitreisen sind paradox? Nicht zwangsläufig! Spätestens seit „Universal War One“ wissen wir, dass die Gegenwart die Summe aller Zeitreisen ist, die jemals gemacht wurden – und noch gemacht werden. Ich gebe es zu, ich sage diesen Satz einfach gerne … :)

Das heißt, wir können den Ablauf der Zeit selbst mit den richtigen Zeitmaschinen nicht verändern, oder Dinge ungeschehen machen. Aber hey – warum nicht Geschäfte machen? „Time before time“ erzählt in der Tonart des Crime-Noir die Geschichte von Tat, der für das Syndikat Menschen und Waren durch die Zeit schmuggelt. Das läuft alles andere als rund, und Tat möchte aussteigen, aber es ist natürlich nicht so einfach, und durch eine unfreiwillige Bekanntschaft mit einer FBI-Agentin eskaliert die ganze Sache, Tat gerät zwischen die Fronten von rivalisierenden Gangs aus unterschiedlichen Zeiten …

Time before time # 1 Hardcoverausgabe

„Time before time“ glänzt mit frischen Ideen im Genre, die in fantastischen Indie-Style-Artworks und visuell extrem gut durchdachten Sequenzen umgesetzt werden. Die Geschichte hat Tempo, spielt auf mehreren Zeitebenen und ist komplex, ohne dabei kompliziert zu sein. Und sie macht einfach richtig Spaß. Mindestens ein Kloß im Hals ist dank der guten Dramaturgie auch garantiert. Was uns dann doch wieder daran erinnert, dass das Leben kurz ist und wir doch so Dead-Poetes-Society mäßig besser die Gegenwart für unser Leben nutzen und den Augenblick genießen.

Der Auftakt der Serie ist gerade im Verlag Skinless Crow erschienen. Unverständlicherweise ist der Band sehr hart limitiert: von der Hardcovervariante gibt es 222 Exemplare. Okay. Aber von der Paperbackausgabe gibt es auch gerade einmal 444 Stück. Die Bände sind allerdings nicht nummeriert. Hoffentlich findet die Reihe auch hierzulande ihr Publikum, der erste Band ist eine echte Perle. Im Original gibt es fünf Bände. Die Softcoverausgabe ist übrigens sehr ordentlich produziert.

Ach ja: ob der Titel des Buches von Cyndi Laupers Song „Time after Time“ inspiriert wurde? Das wüsste ich auch gerne …


Falls Euch die Serie interessiert, wir können Euch die Bände frühzeitig vorbestellen, sodass ihr trotz der Limitierung keinen Band der Serie verpasst.

Time before time # 1
von Declan Shalvey, Rory McConville, Joe Palmer
Skinless Crow
135 Seiten, koloriert
19.90 EUR (Softcover) bzw. 29.90 EUR (Hardcover)

Adventskalender ’23

Freunde, Comicfans und Kreaturen der Tiefsee,

in unserem kleinen Adventskalender 2023 stellen wir euch vom 1. bis zum 24. Dezember jeden Tag einen Comic vor. Mit dabei sind Neuerscheinungen, Reprints, Klassiker – genreübergreifend und quer durchs Comicregal.

Eine Übersicht über alle bereits geöffneten Türchen findet ihr hier:

Tür 24: Der Ring des Nibelungen
Tür 23: Sigi – Operation Brünnhild
Tür 22: Head Lopper
Tür 21: Der kleine Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin
Tür 20: Eine Studie in Smaragdgrün
Tür 19: Kaleidoskop
Tür 18: Die Chroniken des Universums
Tür 17: Koma
Tür 16: Die Albtraumjäger
Tür 15: Percy Pickwick
Tür 14: WYND
Tür 13: Die Lesereise
Tür 12: The me you love in the dark
Tür 11: Eine Reise unter die Erde
Tür 10: Universal War One
Tür 09: Asadora!
Tür 08: Merci
Tür 07: Der Weltraumpostbote
Tür 06: Der Mitternachtsgarten
Tür 05: Der Schweinehund
Tür 04: Alldine & die Weltraumpiraten
Tür 03: Nami und das Meer
Tür 02: Shunas Reise
Tür 01: Madame Choi und die Monster

Wir wünschen euch allen eine schöne Adventszeit!

Der Ring des Nibelungen

Mit diesem Meisterwerk und Ziegelstein von einem Comic (rund 450 Seiten), der Comicadaption und Gesamtausgabe der berühmten Wagner Oper schließen wir unseren Weihnachtskalender. P. Craig Russell liefert hier ein Meisterwerk ab, welches vom Cross Cult Verlag in sehr schöner Aufmachung präsentiert wird.



Klar, das Buch ist mit 50 EUR nicht gerade geschenkt. Aber wie ein Kunde und begeisterter Leser des Comics mal sehr treffend zu mir sagte: günstiger als eine Karte für die Festspiele in Bayreuth. Schaut es euch einfach mal an, schlachtet das Sparschwein, nehmt einen Kredit auf, verkauft ein paar der weniger guten Comics!

Der Ring des Nibelungen, Hardcover, 448 Seiten in Farbe, Cross Cult, 49.99 EUR

Was für ein Comic, was für ein Jahr. Wir hoffen, dass ihr ein paar Tipps mitnehmen konntet, oder einfach etwas Spaß an unseren launigen Texten unseres Adventskalenders hattet. Falls ihr nicht aus Berlin seid: ihr könnt natürlich alle Comics auch bei uns per Mailorder bestellen.

An der Stelle möchte ich mich bei all unseren Kunden bedanken, die uns auch dieses Jahr wieder die Treue gehalten haben. Die auch mal Geduld hatten, wenn die Logistik etwas länger gedauert hat. Ich freue mich schon auf nächstes Jahr und die Fachsimpeleien im Laden. Schaut ruhig auch mal zwischen den Feiertagen hier vorbei, ich werde noch kurz zwei, drei meiner Lieblingscomics des Jahres vorstellen.

Wir wünschen euch allen ein friedliches Weihnachtsfest und erholsame Tage!

Sigi – Operation Brünnhild

In zwei Jahren und einem Monat um die Welt – die erfolgreiche Rennfahrerin Clärenore Stinnes umrundete von 1927 bis 1929 die Erde in einem Reihenwagen. Diese wahre Geschichte dient dem Comic „Sigi“ als Inspiration.

Arnoux und Morancho adaptieren die historische Geschichte nicht ganz so bierernst und auch nicht hundertprozentig diszipliniert. Sigi ist ein Unterhaltungscomic und kein Geschichtsbuch. Der Comic führt uns in die Zeit der Entdeckungen und Abenteuer. Keine Smartphones, kein Internet, kein GPS, schlechte (oder keine) Straßen, kein ADAC. Kameratechnik, die man eher zu zweit auf der Schulter als in der Hosentasche trägt. Klapprige Holzbrücken, wunderbare Autos mit Stoßstange, und eine toughe Protagonistin. In sehr schönen Bildern erzählen Zeichner und Autor eine leichte Geschichte mit einigen historischen Parallelen mit einem zusätzlichen fiktiven Spin um einen finsteren Widersacher.

Ich mag ja richtig gut gezeichnete Comics alter Schule, und habe bestimmte Vorstellungen was Ästhetik und Stil klassischer Alben angeht. Der vorliegende Band hier ist für mich eine Tafel Schokolade unter diesen Comics. Arnoux und Morancho wissen, wie man’s macht.

Sigi Band 1 Operation Brünnhild, Schreiber und Leser, 17.95 EUR

Head Lopper

Das Inselreich Bara. Auftritt Norgal, der Köpfer, Vollstrecker, Sohn des Minotauren. Hat keine Hörner (abgesehen von seinem Helm) und kein Stierantlitz, dafür sein getreues Schwert. Zudem Agatha Blauhexe im Handgepäck. Besser gesagt, ihren ständig plappernden und nach Fleisch gierenden Kopf.

Der Köpfer ist muskelbepackt, hat einen großen, weißen Bart, ist schnell, wendig und eben ein formidabler … Enthaupter! Auf Durchreise in Bara, wo andauernd Monster und andere Angreifer lauern, hat seine Klinge ziemlich viel zu tun.

Als Königin Abigail den Köpfer beauftragt, den Zauberer vom schwarzen Moor zu töten, um Bara von der Plage an Kreaturen zu befreien, ahnt Norgal nicht, dass im Hintergrund eine gefährliche Intrige gesponnen wird. Für die Strippenzieher stellt er bloß eine Spielfigur dar, die sie ihrem dunklen Ziel näher bringen soll. Und auch Agatha Blauhexe zieht Aufmerksamkeit auf sich …

Andrew Maclean nimmt uns mit auf einen rasant-epischen Abenteuertrip, der von Anfang bis Ende actionreich und unterhaltsam ist. In einer überzogenen Cartoon-Manier fliegen Köpfe, spritzen die Blutfontänen. Der Held ist einzig durch Agatha aus der Ruhe zu bringen, die ihn unentwegt volllabert. Übrigens sind die beiden keineswegs befreundet, ganz im Gegenteil!

Ob Norgal, die blaue Hexe, Mönche oder Bestien: die Figurengestaltung ist großartig, einfallsreich und mit viel Liebe zu Details und Farben zu Papier gebracht.

Auch die Perspektiven aus denen die Kämpfe und anderen Ereignisse dargestellt werden, bieten Abwechslung und bringen ein enormes, erzählerisches Tempo mit. Doch auch witzige Sprüche kommen nicht zu kurz.

Das Setting führt Norgal an verschiedene Orte von Baras. Allesamt sind spannend zu erkunden und bilden eine Welt, die Lust macht auf mehr. Zum Glück warten schon die Fortsetzungen auf alle, die mit dem Köpfer in Band Eins eine gute Zeit hatten!

Head Lopper, bisher 3 Bände (Band 4 folgt am 15.04.2024), je nach Band 22 bis 25 Eur,  erschienen bei Cross Cult

Der kleine Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin

Comics für jüngere Kinder im Alter ab 4 Jahren sind dünn gesät. Hier und da gibt es ein paar Bücher, beispielsweise von Reprodukt oder aus dem Kiebitz Verlag. Da freut es mich heute mal ein weiteres und ganz besonderes Buch für Leser ab 4 Jahren vorstellen zu können: „Der kleine Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin“, erschienen im Moritzverlag, ein Buch über die Liebe zweier ungleicher Geschwister, die skurrile Abenteuer erleben.

Die größte Sehnsucht des Königspaars? Ein Kind! Ihr Wunsch geht mit einem Holzroboter und einer verzauberten Prinzessin gleich doppelt in Erfüllung. So weit, so wunderbar – doch wie immer im Märchen gilt es eine Hürde zu überwinden: Die Prinzessin verwandelt sich allabendlich zurück in ein Stück Holz und muss am Morgen von ihrem Bruder per Zauberspruch geweckt werden. Leider vergisst er es ein einziges Mal – da landet sie auf einem Berg von Holzklötzen und wird per Schiff in den eisigen Norden verfrachtet. Der Holzroboter folgt seiner Schwester, um sie zu retten. Unzählige Abenteuer auf dem Rückweg sind zu bestehen, bis die Lage aussichtslos erscheint … Doch mit Hilfe der Tiere im Wald gelingt die glückliche Heimkehr!

– Pressetext Moritz Verlag

Es ist das erste Kinderbuch von Tom Gauld. Genau genommen ist das Buch ein Hybrid aus Comic und Bilderbuch – übrigens in sehr schöner Aufmachung und Haptik produziert. Das lassen wir doch sehr gerne mal gelten. International hat das Buch viel Beachtung gefunden und wurde mit Lob und einigen Preisen überschüttet.

Der Schotte Tom Gauld zeichnet und illustriert sonst in seinem einzigartigen Stil für den Guardian. Einige Sammelbände seiner Comicstrips und Cartoons sind in den vergangenen Jahren im Verlag Edition Moderne erschienen, zB. „Die Rache der Bücher“. Wobei man hier nicht an klassische Cartoons denken darf. Seinen Sachen wohnt ein ganz eigener Spirit inne, der nur schwer in Worte zu fassen ist. Schaut am besten selber mal in eines seiner Bücher.

Der kleine Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin, erschienen im Moritz Verlag, Hardcover, 18.00 Eur

Eine Studie in Smaragdgrün

Neil Gaiman werden wahrscheinlich die meisten von euch kennen. Mit der Serie Sandman schuf er einen der Comicklassiker der 90er Jahre. Ich bin ehrlich: Gaiman ist ein großartiger Autor, nur mit der Auswahl seiner Zeichner bin ich oft nicht so ganz einverstanden. Beispielsweise befürchte ich, dass die Coverartworks von Dave Mckean (so 80er Jahre Kollagen) bei längerer Betrachtung zu Augenkrebs führen können. Und bei Bill Sienkiewicz muss ich immer an so unangenehme Kunstausstellungen denken, und bekomme direkt ein flaues Gefühl im Magen. Okay, Geschmackssache, viele meiner Freunde sehen es anders. Alles okay. Aber es GEHT auch anders!

Der kleine Dantes Verlag hat sich aufgemacht, und hebt einige bislang nicht gehobene Comicschätze. Neben der Reihe „Usagi Yojimbo“, die meiner Meinung nach für eines der drei besten Comicuniversen steht, erscheinen dort auch immer wieder schöne Einzelbände. Z.B. eben auch der Band „Eine Studie in Smaragdgrün“ in der Reihe der „Neil Gaiman Bibliothek“.

Smaragdgrün? Nicht Scharlachrot, wie einst bei Arthur Conan Doyle? Nein, aber natürlich ist das eine Anspielung auf die berühmte Sherlock Holmes Geschichte. Wobei Gaiman in der Erzählung sonst eher auf Understatement setzt. Namen fallen da keine, aber da ist dieser Typ, der in der Baker Street wohnt, und der einen Arzt als Freund hat …

Gaiman verbindet eine klassische Sherlock Holmes Geschichte mit einem übernatürlichen Element, wie es in einem Werk von H. P. Lovecraft vorkommen könnte. Viel mehr möchte ich zu der Handlung auch nicht verraten. Nur noch ein Hinweis: der Band enthält ein lesenswertes Nachwort, unbedingt lesen!

An der Stelle möchte ich kurz ein Wort zu H. P. Lovecraft verlieren. Die Veröffentlichung seiner Briefe haben dazu geführt, dass einige Leser ihn für einen Rassisten halten. Also zum einen denke ich, H.P.Lovecraft hat bis auf wenige Ausnahmen einfach alle Menschen gehasst, zum anderen sollte man immer auch Werk und Künstler voneinander trennen. Und man sollte sich mit moralischer Überheblichkeit ein wenig zurückhalten, und immer auch die Zeit im Blick haben, in der diese Werke entstanden. Kontext. Lovecraft mag in der Hinsicht ein Arschloch gewesen sein, aber er hat auch ein Subgenre der Horrorliteratur praktisch erfunden, und seine Werke haben Vorbildwirkung bis in die heutige Zeit.

Um den Bogen kurz zurück zum Beginn dieses Artikels spannen: Neil Gaimans Teamup mit Rafael Albuquerque und Dave Stewart führt nicht nur erzählerisch, sondern auch visuell zu einem wirklich tollen Comic. Eine echte Perle!

Eine Studie in Smaragdgrün, Hardcover, Dantes Verlag 92 Seiten in Farbe, 22.00 Eur

Kaleidoskop

Du bist absichtlich vom Wege abgekommen. Um dich herum Fichten und Kiefern, Eichen, Kastanien, Haseln. Große, rostrote Ameisen am Boden. Weichst den Nesseln aus, den Kletten. Hebst kleine und größere Steine hoch oder auch Hölzer und Borken die am Boden liegen. Darunter huschen aufgeschreckt Asseln und Tausendfüßer davon, ein Ohrenkneifer flieht in ein kleines Loch. Es hallt das Stochern eines Spechtes zu dir rüber. Die dünnen Stämme knarren im Wind wie alte Türen. Dich überkommt ein wohliger Schauer. Ein Eichhörnchen beobachtet dich dabei, wie du es beobachtest. Entfernt im Dickicht bewegt sich etwas. Nur in deinem Augenwinkel – was war es? Ein Wildschwein vielleicht oder ein Troll? Stille. Du streichelst weiches Moos. Auf einem umgefallenen Baum wachsen Pilze, in der Nähe pickt ein Rotkehlchen im Stamm nach Larven.

So oder so ähnlich können Waldspaziergänge sein, wenn man genau hinsieht, lauscht und genießt.

Ein ähnliches Gefühl erzeugt Kaleidoskop von Moki. Dieser Sammelband beinhaltet kurze Comics der Künstlerin von 2006 bis 2023. Darin begegnen wir vielen unterschiedlichen witzigen, schönen, traurigen und auch mysteriösen Wesen. Traumwandlerisch begleiten wir sie in ihrem Tun, in fantastische Welten (auch mal Berlin-Kreuzberg!) atmosphärisch und wundervoll gemalt. Zum immer wieder Besuchen, Träumen und sich Sehnen.

Kaleidoskop, 192 Seiten, erschienen bei Reprodukt, 29,00 Eur

Die Chroniken des Universums

Wir befinden uns an Bord des Weltraum-Erkundungsschiffs Thucydide im Auftrag der Akademie der universellen historischen Wissenschaften. Die Crew aus fünf Studierenden und ihrem Dekan (oder was von letzterem übrig ist) sehen sich plötzlichen Turbulenzen konfrontiert. Sie machen eine Entdeckung, die kurz darauf von einer noch viel größeren übertrumpft wird. Danach ist nichts mehr wie es der Studienplan einst vorsah.

Ein Science-Fiction-Comic, der uns vier menschlich aussehende Studierende in den Mittelpunkt stellt aber auch eine außerirdische Person. Und der Lehrmeister, der sie immer wieder mit Fragen löchert, ist ein Methusalem ohne Rumpf, Unterleib oder Gliedmaßen in einer Glashaube. Praktischerweise kann diese auf einen Apparat montiert werden, der es ihm ermöglicht, seine Schützlinge überall hinzubegleiten. Hinzu kommt ein mysteriöser Gefangener …

Zwischen Neckerei und Konkurrenzkampf (wer weiß, worauf die Antwort) müssen die Forschenden viele anspruchsvolle Situationen händeln, die selbst älteren Schweißperlen auf die Stirn treiben würden. Zum Glück ist der Dekan immer an ihrer Seite.

Autor Richard Marazano und Zeichner Ingo Römling präsentieren eine Sci-Fi-Story, die sich mit Ereignissen überschlägt und alles von der Akademie-Crew abverlangt. Rätselhaft, spannend und fantastisch zu Papier gebracht. Die Figuren, das Schiff sowie die Welt um sie herum begeistern und geben der Geschichte ihre atmosphärische Dichte. Das Ende von Band eins verspricht noch sehr viel mehr.

Die Chroniken des Universums, bisher 2 Bände bei Splitter erschienen, je 56 Seiten, 16.00 Eur

Richard Marazano begegnet euch bei uns im Laden u.a. noch mit den Reihen „Erinnerungen an den globalen Bürgerkrieg“, „Die drei Geister von Tesla“ und „S.A.M.“ Während Ingo Römling natürlich mit der Reihe Malcom Max vertreten ist.

Koma

In einen Sog zieht mich noch immer KOMA von Wazem & Peeters, ein „all time favourite“, der zu Unrecht immer noch recht unbekannt ist.

Das Mädchen Addidas hilft ihrem Vater bei der anstrengenden Arbeit in Schornsteine zu klettern, um diese dort von innen zu reinigen. Dort wird sie oftmals bewusstlos, verfällt in eine Art Koma und begegnet in ihren Träumen Monstern, die offenbar am Grund der Schlote mysteriöse Maschinen intakt halten … Im Verlauf der Comicreihe verwischen dabei schleichend Realität und Traumwelt des Mädchens, so dass man an manchen Stellen nicht mehr genau sagen kann, auf welcher Ebene man sich als Leser gerade befindet.

Das Charakterdesign von Frederik Peeters ist zum Verlieben. Was beim Essen als geschmacklich vollmundig bezeichnet werden mag, bringen in diesem Comic die reizvollen, ausdrucksstarken Figuren zum Ausdruck: sehr rund und gelungen. Ebenso fesseln umgehend die Szenarien, die Handlungsorte, die unwirklich wie auch überzeugend zugleich wirken. Beim Lesen entsteht ein warmes, abenteuerliches Gefühl. Und zeitgleich kommen Fragen auf: „Was passiert hier bloß? Wo wird das hinführen?“ Jeder weitere Band macht noch gespannter auf den folgenden. Und so gehört sich das.

Die Koloration ist wunderbar, das Lettering bringt kleine und große Buchstaben ganz anders und sehr charmant zusammen, doch wird der Lesefluss an keiner Stelle gestört. Zu entdecken sind auch Bilderfolgen ohne Text … diese so vielsagend, dass solcher dort auch nicht notwendig gewesen wäre. Sprechblasen, die zu den bezauberndsten gehören, die sich je in einem Comic fanden interagieren schräg und quer mit den Bildern, entfleuchen oftmals schlängelnd den Mündern der Figuren. Ein Kleinod wundervollster zeichnerischer Erzählkunst ist Wazem und Peeters mit „Koma“ gelungen. Mit Bewunderung für die beiden Schöpfer und einem schweren Hauch Wehmut nähert sich doch unaufhaltsam dann das Ende.

Übrigens gab es tatsächlich in den vergangenen Jahrhunderten Kinder, die aufgrund ihrer kleinen Körpergröße zur inneren Reinigung von großen Schornsteinen eingesetzt wurden: die sogenannten Climbing Boys (in England) oder Kaminfegerkinder (Alpenraum).

Sechs Bände bei Reprodukt erschienen, je 48 Seiten zu 12.00 Eur.

Die Albtraumjäger

Insomnie, die, lateinisch insomnia, zu: insomnis = schlaflos, zu: in- = un-, nicht und somnus = Schlaf

Ein Zustand, den ich niemandem empfehlen kann! Schlafen wäre ja so schön. Doch plagen euch, wenn ihr damit zwar keine Probleme habt, vielleicht häufig Albträume?

Albtraum, der, mit Albdrücken verbundener Traum; Angsttraum

Meint ihr, vor lauter Aufregung und Furcht, gar nicht erst zu schlafen wäre viel besser als böse Träume durchmachen zu müssen?

Diese Überlegung ist verständlich. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein und dann nassgeschwitzt, panisch aufzuschrecken vermisse ich zwar wirklich nicht. Aber Insomnie ist dem nicht unähnlich, die Panik, wieder nicht schlafen zu können, nicht fit genug zu sein um nicht mal am gewöhnlichen Alltag teilzunehmen, es ist quasi ein … Wachalbtraum.

Comic, der, meist als Buch oder Heft veröffentlichte [gezeichnete] Bildgeschichte

Wäre es nicht aber toll, sowohl schlafen zu können, als auch von Albträumen befreit zu werden? Da wünschte ich mir die Albtraumjäger her, die in den gleichnamigen Comics was wohl tun? Ganz genau! Allerdings gehen die Kinder (denn nur Kinder können diese Aufgabe erfüllen) ausschließlich in den Albträumen anderer Kinder und Jugendlicher auf die Jagd. Sie suchen darin die Ursache für deren Ängste und korrigieren diese Umstände.

In Träume tauchen und darin handeln haben ja schon die Panzerknacker gemacht, allerdings unehrenhaft um an die Kohle des alten Ducks zu kommen. Einen Film, der lose darauf basiert gab es wohl auch mal (zwinker zwinker), aber so ausgefuchst und bestens vorbereitet wie die Albtraumjäger agieren, bietet ihre Geschichte eine ganz eigene Spannung.

Franck Thilliez geht den Sorgen der Kinder und Jugendlichen einfühlsam auf den Grund. Mit Figuren, die sich aufeinander verlassen können und mutig über sich hinauswachsen. Er nimmt die düsteren Gedanken und Befürchtungen, die den Patienten der Albtraumjäger durch Unsicherheiten oder einem brüchigen Umfeld entstehen ernst. Und wie viele junge Menschen können behaupten, sie würden von Erwachsenen ernst genommen werden?

Yomgui Dumont glänzt mit seinem originellen Charakterdesign: ausdrucksstark, sympathisch aber auch schräg. Seine verspielte Seitengestaltung macht das Lesen noch spannender, die liebevollen Hintergründe die Welt der Albtraumjäger tief und stimmungsvoll.

Es geht um Albträume, um mentale Gesundheit und es wird schon manches Mal etwas nervenaufreibend. Es lohnt sich auf jeden Fall!

Altersempfehlung: 10 – 99 Jahre (für nicht zu zart besaitete Gemüter)

Die Albtraumjäger, bislang 6 Bände, erschienen bei toonfish, 52-64 Seiten, je 14,95 Eur

Percy Pickwick

Eine Bibliothek in Neukölln Mitte der 90er Jahre …
Die Auswahl an Comics ist mehr als übersichtlich und dass alles, was Sprechblasen hat im Kinderbereich zu finden ist, selbst Fritz the Cat (definitiv NICHT für Kinder gedacht) ist auch ein klares Zeichen. Hier ist man noch nicht bereit. Jedoch! Sehet! Zwischen Fritz, Asterix und Marsu gibt es zudem Percy Pickwick, ehemaliger britischer Geheimagent und allein schon aus geografischen Gründen Gentleman par excellence.

Percy Pickwick wurde tatsächlich aber 1959 in Belgien von einem Belgier erschaffen, von Raymond Macherot. Im Original „Clifton“ war er hierzulande unter diesem Namen (oder auch als Sir Harold) im ZACK Magazin, den Fix & Foxi Heften und im Yps anzutreffen, bevor Carlsen ihn als Percy Pickwick die Albenreihe gab, von der in der Bibliothek die Rede ist.

Seit 2014 bringt der Splitter-Verlag die Geschichten mit viel Aufwand (die Comics wurden im besten Sinne überarbeitet) in sehr schönen, dicken Sammelbänden unter dem Label toonfish mit vielen Hintergrundinformationen und zusätzlichen Illustrationen heraus.

Verschiedene Autoren und Zeichner ließen den Sir spannende Abenteuer erleben, denn obwohl im Ruhestand und höchstens den Pfadfindern als „Großer Reiher“ Vorbild seiend, eilt Colonel Pickwick sein Ruf als fantastischer Amateurdedektiv voraus. By Jove, gefährlich geht es dann zu, und mit Tempo. Doch auch der Spaß kommt nicht zu kurz und Percy begegnet allerlei kauzigen Gestalten. Ach ja, und Katzen gibt es auch.

Zeichnerisch top notch, je nach Künstler sind die Figuren mal ulkiger, mal sehr seriös im Strich. Das Lokalkolorit kommt auch nie zu kurz und neben flotten Oldtimern darf der 5-Uhr-Tee nicht fehlen.

Ob in den 60ern zuerst oder vielleicht in den 90ern zuletzt gelesen, ist Percy Pickwick noch immer allerbeste Unterhaltung. Heavens!

Percy Pickwick ist erschienen bei toonfish, 6 Bände zu je 29,95 Eur
Alle Bände findet ihr bei uns im Sortiment.

WYND

In die letzte verbliebene Menschenstadt Pipetown, die sich von magischen Kreaturen bedroht fühlt, kommt der berüchtigte bandagierte Mann, um dafür zu sorgen, dass auch noch das letzte Fünkchen Zauberei gefunden und ausgerottet wird. Wynd hilft in der Küche der Taverne seiner Adoptivmutter und hält ansonsten gerne in der Stadt scheu nach seinem Schwarm Ausschau. Egal wo er sich sehen lässt muss er eine Kapuze tragen, denn das Wynd spitze, nichtmenschliche Ohren hat, ist ein Geheimnis, welches ihm zum Verhängnis werden könnte. Mit dem Auftauchen des bandagierten Mannes fasst seine Mutter den Entschluss, Wynd muss fliehen …

Der Comic von Autor James Tynion IV und Zeichner Michael Dialynas ist der Start einer spannenden Serie um magische Wesen, die als bösartig und gefährlich gelten und der Menschheit, die sich vor ihnen schützen will, egal was sie dafür tun muss. Doch haben sie mit ihren Befürchtungen recht, oder irren sie sich in ihrer Sorge vor dem Fremden?

Das Kreativduo etabliert eine Fantasywelt, die auf den ersten Seiten düstere Vorboten von einer nur oberflächlich friedlichen Stadt und ihrer Bevölkerung schickt. Dialynas zeichnet mit vielen tollen Details und lebhaften Figuren ein Pipetown, welches zum Entdecken einlädt und noch neugieriger darauf macht, was uns und Wynd außerhalb der Menschenstadt erwartet.

Für Fans von „Avatar – Der Herr der Elemente“ und „Amulet“.

Von James Tynion IV findet ihr bei uns im Laden auch die Reihen „Something is Killing the Children“, „Bitter Roots“, „The Department of Truth“

WYND -Buch Eins: Seltsames Blut, erschienen bei Carlsen Comics 128 Seiten, 16.00 Eur

Die Lesereise

Der Autor G.H. Fretwell wird mit seinem neuen Roman auf Lesereise geschickt. Aber an keinem der Veranstaltungsorte will auch nur eine einzige Buchsignierung gelingen. Das Personal zeigt sich darüber sehr verwundert. Fretwell bleibt noch bescheiden und hoffnungsvoll. Doch nach und nach werden die Enttäuschungen und Wirrungen immer mehr und dann geschieht auch noch ein Unglück, woraufhin Fretwell in Bedrängnis gerät.

Ruhig erzählt der Brite Andi Watson in wunderbaren, schwarz – weißen, schraffierten, fast skizzierten Bildern eine Geschichte mit ausgesprochen merkwürdigen, kauzigen Charakteren, die nicht selten aneinander vorbeireden, was teilweise beängstigende Formen annimmt. Die Figuren sind minimalistisch gehalten, aber gleichzeitig ausdrucksstark und witzig gezeichnet. Meisterhaft.

Wer passiv-aggressive Tendenzen hegt, könnte bei dem Verhalten der Leute, auf die der Protagonist trifft, mindestens ein nervöses Augenlidzucken bekommen. Umso besser, dass wir hier nur beobachten und nicht in seiner Haut stecken. Die Geschichte öfter zu lesen und zu schauen, was einem entgangen ist, bietet sich an.

Das Buch wurde von der Jury des Tagesspiegels zum „Comic des Jahres 2022“ erwählt.

Die Lesereise 268 Seiten, von Andi Watson, erschienen im Schaltzeit Verlag, 25.00 Eur