Lorenzo Mattotti ist einer der eigenwilligsten unter den Comic-Künstlern. Schon Mitte der 80er Jahre hatte er seinen charakteristischen Stil gefunden, der von Lesern sofort als `eindeutig Mattotti´ identifiziert werden kann. Besonders seine farbigen Arbeiten sind typisch und geradezu durch Farbexplosionen gekennzeichnet. Die leuchtenden Farben etwa in "Feuer", "Der Klang des Rauhreifs" oder "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" sind herausragende Beispiele für den grafisch wie erzählerisch anspruchsvollen Stil des Italieners. Doch immer wieder macht Mattotti Bücher, in denen er sein Spektrum erweitert. Seine Schwarzweiß -Comics (etwa "Der Mann am Fenster", "Stigmata" oder "Schimäre") sind nicht weniger gelungen als seine farbigen Arbeiten, je nach Thema und Geschichte entscheidet er, welche Grundstimmung den Band beherrscht. Die Psychologie spielt eine große Rolle in seinen Werken, Träume von Ich-Erzählern gehen oft in faszinierend surreale Visionen über.
Neben seiner Comic-Kunst arbeitet er in der Werbung und als Illustrator. Die meisten seiner illustrierten Kinderbücher sind in Deutschland leider nicht erschienen. Seine aktuelle Adaption von "Hänsel und Gretel" jedoch hat es zur Veröffentlichung beim Carlsen-Verlag geschafft. Wie die französische Originalausgabe ist sie im überformatigen Hardcover gedruckt.
Diesmal ist es ein extrem expressiver Stil, der das Buch beherrscht. Zwei Seiten des Originalmärchens (in der "Ausgabe letzter Hand" der Gebrüder Grimm) wechseln sich mit jeweils einer doppelseitigen Grafik ab. Der Druck ist so gut, dass die Verve des Künstlers hinter den mit schwarzer Tusche gepinselten Bildern erkennbar wird. Äußerst düster wirkt das Buch, denn ein borstiger, zugewachsener Wald beherrscht fast alle Seiten. Grundlage für die Zeichnungen war eine Reise des Künstlers, auf der er Studien in einem urwüchsigen Wald Südamerikas betrieben hat.
Hänsel und Gretel tauchen fast nur als Schemen oder Schattenrisse auf, trotzdem erkennt man sie wie die übrigen Figuren sofort. Die gewaltigen Bilder fangen jeweils Schlüsselszenen des Märchens ein. Ob Elternhaus, Wald oder Hexenhäuschen – stets erscheinen die winzigen Kinder wie Gefangene der Schatten. Doch am Ende hält das Licht Einzug in die Geschichte.
Ein Kinderbuch? Für kleine Kinder ist es wohl zu düster. Es ist vielmehr eine herausragende grafische Adaption des Märchenklassikers – für Liebhaber künstlerisch anspruchsvoller Bücher zwischen den Medien Illustration, Kunst und Comic.
Mattotti selbst äußerte sich kürzlich auf dem Graphic-Novel-Podium des Internationalen Literaturfests Berlin folgendermaßen:
"Hänsel und Gretel hat auf mich als Kind eine große, beängstigende Faszination ausgeübt, es ist sicher eines der grausamsten Märchen überhaupt. Kinder werden einfach von ihren Eltern im Wald ausgesetzt, um elendig zu verhungern. Als Kind schon hatte ich mich zeichnerisch an der hässlichen Hexe versucht. Bei der Arbeit an dem Buch stand für mich früh fest, dass diese Geschichte nur in Schwarz-Weiß denkbar war. Kinder dürfen sich natürlich mein Buch auch ansehen, schließlich übt das Dunkle und Böse auf jedes Kind eine große Faszination aus. Und wenn es ihnen zu unheimlich wird, können sie es immer noch zuschlagen. Und dann wieder öffnen, wenn sie bereit sind für die nächste Seite. Nur alleine in einem tiefen dunklen Wald sollten sie es nicht gerade lesen"
Hänsel und Gretel
Lorenzo Mattotti, Jacob und Wilhelm Grimm
Carlsen Verlag
Hardcover im Überformat (25 x 34 cm) mit Goldfolie, 48 Seiten s/w, 19,90 EUR
Über den Rezensenten: Ralph Trommer ist Autor von Kurzgeschichten, Drehbüchern und Animationsfilmen. Er taucht gerne in die faszinierende Welt der Comics ein.