Trotz vieler gelungener Elemente der Spielbergversion von "Tim und Struppi" stellte sich für mich nach der Vorführung die Sehnsucht nach dem Original ein. Zu sehr hat Spielberg Tim/Tintin mit Indiana Jones vermischt (oder verwechselt?) und spektakuläre Szenen dazuerfunden, die der Comic gar nicht nötig hat.
Zunächst zu den Grundlagen des Films: Spielberg hat vor allem das Album "Das Geheimnis der Einhorn" adaptiert, von dessen Fortsetzung "Der Schatz Rackhams des Roten" verwendete er nur eine finale Szene. Außerdem hat er wichtige Teile aus dem Band "Dir Krabbe mit den goldenen Scheren" entlehnt, um Kapitän Haddock vorzustellen, der im "Einhorn"-Comic Tim und den Lesern eigentlich schon bekannt war.
"Das Geheimnis der Einhorn", hat für mich auch eine besondere persönliche Bedeutung: in meiner Erinnerung ist es der erste Tim und Struppi-Band, der mir von meinen Eltern vorgelesen wurde. Seitdem liebe ich jeden einzelnen der kauzigen Charaktere. Noch heute bin ich der Überzeugung, dass dieser Band auch einer der besten der Reihe ist.
Worin liegen nun die Qualitäten des Originals?
Hergé beginnt seine Geschichte auf dem Flohmarkt, den er liebevoll und atmosphärisch dicht beschreibt. Ein gerissener Geldbörsendieb treibt sein Unwesen. Die "Geheimagenten" Schulze und Schultze werden selbst Opfer des Diebes. Um ein Schiffsmodell, das Tim gerade aus einer Laune heraus für Kapitän Haddock gekauft hat, reißen sich mehrere obskure Gestalten. Tim (und mit ihm der Leser) schwant es, dass es sich hierbei nicht um ein gewöhnliches Modell handeln kann. Später präsentiert Tim das Stück seinem Freund. Der ist verblüfft, das es der "Einhorn", dem Schiff seines Ahnen, des Ritters Hadoque, aufs Haar gleicht. Kurz darauf wird das Modell aus Tims Wohnung gestohlen, ein Konkurrent vom Flohmarkt niedergeschlagen, ein anderer angeschossen. Tim findet heraus, dass sich unter einem Mast ein Pergament mit einem mysteriösen Text verbarg – Hinweise auf die Lage eines immensen Schatzes.
Kapitän Haddock kramt indes alte Dokumente seines Vorfahren hervor und versenkt sich in das Tagebuch des Ritters Hadoque.
Hier entfaltet sich der abenteuerliche wie humoristische Höhepunkt der Geschichte: Haddock, vom Tagebuch wie vom Wein sichtlich animiert, erzählt seinem Freund Tim von der Enterung der "Einhorn" durch den Piraten "Roter Rackham". Dabei identifiziert sich Haddock dermaßen mit seinem Ahnen, dass beide miteinander verschmelzen. Haddock durchlebt die Duelle mit den Piraten noch einmal neu, sodass Tim und Struppi vor dem wild herumsäbelnden Kapitän in Deckung gehen müssen und dessen Einrichtung zu Bruch geht. Hier wird deutlich, dass Hergés Kunst – neben dem kunstvollen Spannungsaufbau vor oft geografisch abwechslungsreicher, oft exotischer Kulisse – vor allem von der liebevollen Figurenzeichnung lebt.
Der zweite Teil des Bandes spielt sich hauptsächlich auf Schloss Mühlenhof ab, wohin Tim entführt wurde. Auch Struppi bekommt seine großen Momente. Auf anrührende Weise wird erst der Verlust des Herrchens beschrieben wie Struppis Beharrlichkeit, Tim wiederfinden zu wollen und die Spur aufzunehmen.
Nach der Festnahme der Ganoven (ein fieses kriminelles Brüderpaar, im Film nicht existent) wird am Ende auch das Geheimnis um den Geldbörsendieb auf elegante Weise gelöst, was auch der Handlung einen wesentlichen Impuls liefert: verschwundene Pergamente tauchen wieder auf, die den Weg zur Schatzsuche ebnen.
Nicht nur Hergés erzählerische Brillanz, seine Fülle an phantasievollen Einfällen werden offenbar, jede Nebenfigur bekommt Raum für unvergessliche individuelle Szenen, neben Haddock und Struppi vor allem die beiden Schul(t)zes, deren Slapstickeinlagen an Komik kaum zu überbieten sind.
Ein schönes Beispiel für Hergés gelegentlich die Handlung unterbrechende humoristische Einlagen ist die, als Tim während eines Regens eine Telefonzelle aufsuchen will, um den Kapitän anzurufen. Doch die Zelle ist besetzt. Tim wartet geduldig zwei weitere Bilder im Regen, beginnt aber allmählich, sich zu ärgern, wie lange manche Leute telefonieren. Als der Regen aufhört, tritt eine korpulente Dame mit ihrem Schoßhündchen heraus: "Wir können gehen, Mirza, es regnet nicht mehr"
Selbst ein höflicher junger Mann wie Tim wird so dazu gebracht, mit Blicken Blitze zu werfen.
"Das Geheimnis der Einhorn" zeigt Hergé auf der Höhe seiner Kunst, als elftes Album der insgesamt 24 Bände kann man es als Paradebeispiel für seine klassische Phase bezeichnen.
Tim und Struppi, Das Geheimnis der Einhorn
Hergé
Carlsen Verlag
Farbfaksimile Ausgabe: Hardcover, 17,90 EUR (siehe Abbildung)
Softcoverausgabe: 9,00 EUR
Über den Rezensent: Ralph Trommer ist Autor von Kurzgeschichten, Drehbüchern und Animationsfilmen. Er taucht gerne in die faszinierende Welt der Comics ein.