Ein moderner Klassiker der „Graphic Novel“
Will Eisner ist vielen Comicfans vor allem durch seine „Spirit“-Comics aus den 40er und 50er Jahren ein Begriff. Auf durchschnittlich sieben Seiten hat er in diesen Kriminalgeschichten sein erzählerisches Talent trainiert und früh eine Meisterschaft bewiesen, wie sie wohl kein anderer amerikanischer Zeichner der „Superman“- Generation erreichte. Starre Grenzen des Genres hat er schon damals gerne ignoriert und neu ausgelotet, um brillante Charakterstudien über Einzelgänger, unscheinbare Mitmenschen zumeist, mit romantischen Träumen oder seelischen Abgründen zu erzählen.
Nachdem er sich eine Weile vom Comic zurückzog, begann er Ende der 70er Jahre mit der episodischen Erzählung „A Contract with God“ sein Spätwerk und erfand einen neuen Weg, mit dem Comic persönliche und zugleich allgemeingültige Geschichten zu erzählen. Damit verpasste er dem Medium noch mal einen echten Meilenstein. Mit seinen zahlreichen umfangreichen Erzählungen aus dieser Zeit bis in die 2000er Jahre hinein etablierte er den Begriff „Graphic Novel“, indem er die erzählerischen Mittel des Mediums voll ausschöpfte und – durchaus beabsichtigt – eine Brücke zur (Hoch-) Literatur schuf. Dabei handelt es sich, genau genommen, meist nicht um Novels, sondern um Short Stories, für die Eisner jeweils die perfekte Form und Länge fand. Man kann Eisner deshalb getrost als den Meister der Comic-Short-Story nennen, vergleichbar amerikanischen Literaten wie Raymond Carver oder Hemingway.
Jedoch sind diese Kurzgeschichten meist in einen größeren Zusammenhang eingebettet, der sich im Titel der Bände widerspiegelt und das Thema oder den Schauplatz vorgibt: „The Building“, „Invisible People“, „Dropsie Avenue“… Die wechselnden Helden sind thematisch verbunden, was durch Kommentare eines allwissenden Erzählers oder einfache Überschriften verdeutlicht wird. Typische Eisner-Erzählungen kreisen um Durchschnittsmenschen, wie sie in modernen amerikanischen Großstädten anzutreffen sind, deren Nöte, Träume, Hoffnungen, und hecheln nicht selten in pointierten Ellipsen ein ganzes Leben durch – bis zum oft bitteren, desillusionierten Ende. Etwa der selbstzufriedene kleine Angestellte, der im Band „The Building“ den Mord an einem kleinen Jungen miterlebt und sein Leben ändert, um anderen Kindern zu helfen und damit wiedergutzumachen, dass er den Jungen nicht beschützen konnte. Doch auf verschiedene Art und Weise scheitern seine Versuche immer wieder, weil etwa seine Hilfe nicht angenommen wird oder er korrupten Sozialbetrügern unwissentlich in die Hände spielt.
Jede einzelne seiner Geschichten spiegelt Eisners feine Beobachtungsgabe wieder, die gesellschaftliche Verhältnisse in den USA und in Großstädten überhaupt messerscharf zu sezieren weiß. In der Graphic Novel “City People“ (enthalten im „New York“-Band), werden in stummen „Cartoons“ von ein bis vier Seiten Länge soziale und urbane Phänomene aufgezeigt und oft satirisch überzeichnet. So die Geschichte vom Neuankömmling in der Großstadt, der, aus der Kleinstadt oder vom Lande kommend, Probleme hat, mit der Hektik der Städter zurechtzukommen – bis er kapituliert und sich im letzten Bild in den Rhythmus der Masse eingliedert. Hier wird Eisner, wie so oft in seinen Panels, zum virtuosen Choreographen seiner Figuren.
Carlsen hat die Graphic-Novels Eisners nun in drei Bänden veröffentlicht. Jeder Band ist 4- 500 Seiten stark und enthält 3 bzw. 4 komplette Novels (ergänzt durch neues Zusatzmaterial), die zuvor in Einzelbänden erschienen sind. Qualitativ sind die 3 Bücher gleichwertig. Sie versammeln die schönsten und wichtigsten Stories, die nicht nur erzählerisch, sondern (wie von Eisner seit dem „Spirit“ nicht anders zu erwarten) auch grafisch interessant und abwechslungsreich sind. Eisner beweist einen unendlichen Einfallsreichtum allein in der grafischen Anordnung einer Seite – keine Seite besteht nur aus den üblichen Aneinanderreihungen von Bildkästen, keine ähnelt der anderen, stets sucht er nach der angemessenen Form für die jeweilige Erzählung. Übergänge von einem Bild zum nächsten erinnern zuweilen an filmische Überblendungen, ein Fluss der Erzählung entsteht.
Damit ist er bis heute der Maßstab im Bereich der (amerikanischen) Graphic Novel, an dem sich jüngere Künstler immer noch messen lassen müssen. Aktuelle herausragende Arbeiten wie etwa die von Craig Thompson sind ohne Eisners Pioniertaten kaum denkbar. Dabei erscheinen die Inhalte der Erzählungen weiterhin modern, ja nahezu zeitlos wie manche amerikanischen Filmklassiker. Und man erfährt viel über Geschichte und Lebensverhältnisse des urbanen Amerika, denn viele Stories spielen Anfang oder Mitte des 20. Jahrhunderts.
Das Schicksal der unterschiedlichsten Typen der „ordinary people“ in Großstädten steht im Zentrum aller Bände, wird menschlich sehr einfühlsam, ja mitfühlend oder – leidend , manchmal unerbittlich dargestellt. Daneben sind es auch persönliche, autobiografische Erzählungen einiger Werke, die hier geschlossen vorliegen und vor allem den dritten Band prägen: Etwa die lange (und somit wirklich die Bezeichnung Graphic Novel verdienende) Erzählung „Im Herzen des Sturms“. In dieser spiegelt sich, neben viel Erfahrenswertem über Will Eisners Werdegang als Zeichner, auch die Perspektive jüdischer Einwanderer wieder, wie es Eisners Eltern selbst waren.
Die "Will Eisner"-Bibliothek bei Carlsen:
Ein Vertrag mit Gott
Hardcover, 528 Seiten, 36 EUR
Lebensbilder
Hardcover, 480 Seiten, 36 EUR
New York
Hardcover, 440 Seiten, 34 EUR
The Spirit bei Salleck Publications
Chronologische Gesamtausgabe von The Spirit
Über den Rezensenten: Ralph Trommer ist Autor von Kurzgeschichten, Drehbüchern und Animationsfilmen. Er taucht gerne in die faszinierende Welt der Comics ein.