Der gebürtige und als Eigenbrötler geltende Kanadier Jeff Lemire gehört z.Z. zu den angesagten Autoren der amerikanischen Comicszene. Sein Repertoire ist vielfältig und pendelt zwischen pulpigen Mainstream und anspruchsvollen Autorencomics. Seine Trilogie Essex County (benannt nach einer Provinz, in der er selbst aufgewachsen ist) gehörte in einer kanadischen Statistik zu den fünf beliebtesten Büchern (inkl. Non-Comics). Lemires Bücher wurden zahlreich für Preise nominiert und teilweise auch ausgezeichnet.
Ähnlich wie in Essex County ist die neue, Anfang des Jahres bei Panini erschienene Geschichte "The Nobody" wieder in der Provinz angesiedelt. Protagonisten sind auch hier wieder Leute, die nicht unbedingt zu den glücklichen Menschen zählen oder Ihre Berufung ausleben. Gewinnertypen gibt es hier nicht, die Figuren sind eher von Perspektivlosigkeit gezeichnet. Und es geht um fehlende Kommunikation, um Paranoia und Vorurteile.
Das monotone Leben in einem Fischerort wird unterbrochen, als eines Tages der – ähnlich einer Mumie – vollständig bandagierte Griffen auftaucht, und sich in einer Pension einquartiert. Allerlei Gerüchte spinnen sich um den Mann, der seine Bandagen nie abzulegen scheint, und darunter seine geheimnisvolle Identität zu verbergen scheint. Zaghaft entwickelt sich eine Freundschaft zwischen Griffen und Victoria. Als in der Stadt eine Frau vermisst wird, sind sich die Leute schnell einig: der Unbekannte muss etwas mit dem Verschwinden der Frau zu tun haben. Die Jagd auf Griffen beginnt…
War Essex County noch in auf den ersten Blick sperrigen Schwarz/Weiß-Zeichnungen angelegt (der Eindruck der Sperrigkeit verfliegt, sobald man begonnen hat, die Geschichten zu lesen), geht es diesmal mit einer Zusatzfarbe und grafisch etwas gefälliger zur Sache. Lemire nutzt dabei die Möglichkeiten des visuellen Erzählens beispielhaft. Dies äußert sich zB. darin, dass es wenig Dialog gibt. Seitenweise "Talking Heads" wie in anderen Graphic Novels (beispielsweise in "Baby's in Black") – so etwas gibt es hier nicht. Geradezu vorbildlich und konsequent, nie das Tempo der Geschichte aus den Augen verlierend, führt uns der Autor mit assoziativer Bildsprache durch die Geschehnisse.
Jeff Lemire hat eine sichere Hand für erzählerischen Tiefgang. In seinen Geschichten geht es um das Leben, um Momente, um Reue und verpasste Gelegenheiten, um den linearen, unumkehrbaren Lauf der Dinge. Es geht weniger um spektakuläre Plots als um Momentaufnahmen der Charaktere, erzählerisch dargeboten in einem langsamen, dekomprimierten Erzähltempo. Nicht alle Fragen, die Lemire mit dieser sehr freien Neuinterpretation von H.G. Wells "Der Unsichtbare" aufwirft werden auch beantwortet. Lemire erzeugt vielmehr mit seiner Darstellung der Tristesse eine fast schon schonungslose Melancholie, die im Medium Comic ihresgleichen sucht, wie in einem Song von Tocotronic. Ev. klingt das für Euch Leser erst einmal abstoßend oder fatalistisch, aber Lemires lesenswerte Bücher erzeugen eine ungeheure Sogwirkung, für alle Leser, die sich gerne mal in so eine Stimmung versetzen lassen, sie sind Leseerlebnisse und regen zum Nachdenken an.
Last but not least hat Lemires Kunst Referenzcharakter. Niemand, der sich mit dem Gedanken trägt selber mal einen Comic zu machen, sollte an Lemire vorbei gehen.
The Nobody
von Jeff Lemire
Panini
Hardcover, 148 Seiten, farbig, 19.95 EUR
Leseprobe bei mycomics (benötigt Flash)
Zu Jeff lemires Blog geht es hier: http://jefflemire.blogspot.de/