Der erste Zyklus und damit der erste abgeschlossene Story-Arc des historischen Abenteurepos Der Schrei des Falken von Patrice Pellerin liegt seit einigen Wochen in einer bibliophilen, dreibändigen Gesamtausgabe vor. Weil niemand über diese Perle einer vom Aussterben bedrohten Art schreibt (die Autobiografie eines Teenagers erregt heute mehr mediale Aufmerksamkeit), tue ich dies hier in folgendem Text. Denn wenn eine Comicgeschichte dieses Genres die Bezeichnung grafischer Roman verdient, dann ist es diese über sechs Episoden spannende Erzählung.
Der Schrei des Falken verbindet vertraute Handlungselemente des historischen "Mantel und Degen"-Genres zu einem temporeichen Abenteuer. Abenteuer in fremden Ländern, Intrigen, ein zu Unrecht eines schweren Verbrechens verdächtiger und verfolgter Held mit einer bewegten Vergangenheit, fiese Gegenspieler, Rache und Romanzen. Wenn man böse wäre, könnte man sagen, es ist ein Versatzstück. Ist es genau genommen auch, aber es ist eben auch verdammt gut gemacht, mit hervorragenden erzählerischen und zeichnerischen Qualitäten. Altbacken ist der Comic jedenfalls nicht, dafür hat der Autor an den richtigen Stellschrauben gedreht. Und um das gleich vorweg zu nehmen – ein Artbook für Segelbootfetischisten ist es auch nicht, auch wenn der Comic die entsprechenden Schauwerte mitbringt und manchmal so beworben wird. So wurde im Vergleich zu Genre-Titeln das Tempo hochgeschraubt und zugleich die Melodramatik zurückgefahren. Auf das Operettenhafte wurde komplett verzichtet. Kenner der alten "Mantel und Degen"-Geschichten wissen sicherlich, was ich damit meine. Das Kunststück gelingt – am Ende ist "Der Schrei des Falken" ein spannendes klassisches Abenteuer, das in meinem persönlichen Ranking gleichauf mit Bourgeons Reisende im Wind oder dem großartigen Film Master und Commander steht, und dem ich einen Status als zeitlosen Klassiker prophezeie.
Und so steigt bei der Lektüre dieses Comics das angenehm wohlige Gefühl hoch, das man beim Betrachten eines (gut gealterten) Filmklassikers Sonntags Nachmittags auf Arte spürt. Der Autor geht an einzelnen Stellen der Erzählung aber auch über gewohnte Genre-Inhalte hinaus. So werden feministische Gedanken formuliert – dies jedoch auch mir sehr viel Fingerspitzengefühl, so dass auch die weiblichen Protagonisten noch in die Zeit passen, die eben noch patriarchisch war.
Überhaupt legt Pellerin sehr viel Wert auf eine authentische Darstellung der Zeit – sieht man einmal von der abenteuerlich überzeichneten Biografien der Hauptfiguren ab (deren Lebensläufe und erlebte Abenteuer reichen für ein gutes Dutzend Menschen), glänzt der Comic mit akribisch recherchierten Details. Ähnlich wie in Bourgeons Reisende im Wind wurde großen Wert auf Darstellung von Kleidung hin zu den Häusern und Schiffen gelegt. Im redaktionellen Anhang der Bücher erfahren wir, dass dies auch als eine Verneigung vor dem Handwerk des 18. Jahrhunderts gemeint ist.
Geboren wurde die Serie übrigens aus Der rote Korsar (wir erinnern uns, das ist der Korsar, der auch für den Piraten aus Asterix Pate stand) heraus. Pellerin arbeitete gerade an einem Album für die Reihe, als es dort zu einschneidenden Veränderungen kam. Die bereits entstandenen Seiten bildeten dann den Auftakt für eine eigene Serie. Details zur Entstehung des Falken können dem redaktionellen Anhang der Reihe entnommen werden.
Die Reihe ist sicherlich nichts für Leute, die atemlos immer nur nach den neuesten und unkonventionellen Sachen suchen. Allen, die sich gerne mal zurücklehnen und sich ein schönes Wochenende machen wollen, und auf ästhetisches ausgewogenes Artwork stehen, sei die Serie empfohlen.
In Frankreich würde der Comic übrigens als TV-Serie verfilmt. Leider liegt bis heute keine deutsche Fassung vor.
Warum ein Comic von der Qualität hierzulande nur in einer limitierten Auflage von 1000 Stück erscheint, und nicht sofort vergriffen ist, bleibt das größte Rätsel der Serie. Ev. hängt das auch mit dem Nullmarketing des Verlages Comic+ zusammen.
Weitere Informationen zur der Serie und ein (schon älteres) Interview mit Pellerin gibt es auf der Homepage von Comic+ unter diesem Link.
Der Schrei des Falken
Gesamtausgabe, limitiert auf 1000 Exemplare, 1. Zyklus, Band 1 bis 3
jeweils
von Patrice Pellerin
Comic+
Hardcover, ca. 112 Seiten, in Farbe, 30.00 EUR