What’s so funny about

Zu den größten Comiczeichnern wird er gezählt, der Amerikaner Robert Crumb, seines Zeichens Undergroundkünstler. Unglaublich gut zeichnen kann Mr. Crumb in dem ihm so eigenen und oft kopierten Stil mit Linien und Kreuzschraffuren in der Tat. Jetzt ist der Sammelband Nausea bei Reprodukt erschienen.

Nausea

Crumb lässt uns in seinen Werken teilhaben an Psychosen und seinen grotesken sexuellen Vorlieben und Fantasien, mitunter ist das Pornografie, der wirklich jede Erotik fehlt. Mitunter ist das auch erstaunlich niveaulos und sexistisch, und erfüllt einige Klischees über Comics, gegen die etliche Leute seit Jahren versuchen anzukämpfen.

Seine Lieblingsfigur ist der kleine Mann, der auf üppige Frauen Marke Schwergewichtsringer steht. Bei diesen Proportionen der am Akt beteiligten befürchtet der Leser gelegentlich, dass der kleine Mann gleich das Schicksal der männlichen Gottesanbeterin (das Insekt ist gemeint) teilt. Am Ende bleibt die Frage: was ist daran eigentlich so lustig?

Damals war das inhaltlich sicher revolutionär, heute schockiert das glaube ich keinen mehr, der schon mal im Internet auf eine Pornsite (rein zufällig und aus Versehen, versteht sich) gelangt ist, oder nachts schon mal Privatfernsehen an hatte. Interessant ist Crumb daher m.M. nach auch eher als historische Figur, interessanter als sein Werk ist sein Vermächtnis: sein Stil hat unzählige Zeichner beeinflusst und das Medium Comic nachhaltig verändert. Das muss man ihm zu Gute halten, und das rechtfertigt auch den Reprint seiner Werke. Und so ist es auch eher Anschauungs- als Lesestoff. Für comichistorisch interessierte. Wer genügend Distanz zum Inhalt mitbringt kann sich zudem an den grandiosen Zeichnungen erfreuen.

Reprodukt hat dem Underground-Porno die gleiche Aufmachung wie den Mumins (wir erinnern uns, diese wunderschönen, herzlichen, skurrilen, liebenswerten All-Age Geschichten) spendiert. Diese ist sehr schön geworden. Inhaltliche Assoziationen zu ähnlich aufgemachten Publikationen lässt man da aber lieber bleiben.

Leseprobe bei Reprodukt

Nausea
von Robert Crumb
Reprodukt
Hardcover, 112 Seiten, s/w, 29.00 EUR
 

Die Kunst zu fliegen

Kürzlich sind wieder mal zwei sehr feine Comics im Berliner Avant-Verlag erschienen. Einer davon ist "Die Kunst zu fliegen" (über den anderen Comic "Atar Gull" später mehr). Eine biografische Graphic Novel im Albenformat mit rund 200 Seiten Umfang, wir wir es von Avant so schätzen. Autor Altarriba hat etwas zu erzählen: die Geschichte seines Vaters, ein Träumer, der Zeit seines Lebens versucht hat, eben diesem zu entfliehen. Geschafft hat er es erst 2001, als er aus dem Fenster des vierten Stocks seines Altersheims gesprungen ist…

Die Kunst zu fliegen

Die wahre Geschichte spielt in Spanien und überspannt einen Zeitraum von 1910-2001, und ist gleichzeitig die Geschichte des Landes und der Verlierer der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Viel zeitgeschichtlich Interessantes gibt es da mitzuerleben. In seinem Heimatland wurde der Comic mit etlichen Preisen bedacht.

Auch zeichnerisch ist der Band sehr überzeugend. Das Autor Altarriba (*1952, seines Zeichens Literaturprofessor) und Zeichner Kim (*1941, Comiczeichner) alte Hasen sind und die beiden selbst über die nötige Lebenserfahrung verfügen, merkt man den Band an, auch wenn es die erste Graphic Novel des Zeichners ist. Empfehlenswert!

Aus dem Pressetext:
Durch die Augen seines Vaters lässt uns Altarriba das spanische Jahrhundert durchleben: das Leid, das der Bürgerkrieg und später die Deutschen über das Land gebracht haben, Exil, Widerstand und das Leben in den Lagern, die Franco-Diktatur und ihr Ende, der wirtschaftliche Aufschwung und das Aufblühen der Demokratie. Altarriba erzählt eine unwahrscheinlich persönliche und zugleich universelle Geschichte über das Erinnern in einem Land, das wie kein zweites versucht, zu vergessen und zu verdrängen.

 

Die Kunst zu fliegen
von Altarriba und Kim
Avant
208 Seiten, Softcover, s/w, 24.95 EUR

Largo Winch 18 – Weißglut

Ab 9. November erhältlich. "Weißglut" beendet die im Vorgängerband "Schwarzmeer" begonnene Geschichte.

Im ihrem Herkunftsland hat die Serie aus den Händen des belgischen Autors Van Hamme und Zeichners Franq eine Startauflage von 350.000 Exemplaren. Zwei Kinofilme wurden bereits gedreht, die hierzulande als DVD Produktionen erschienen. Weiterhin gibt es eine TV-Serie.

Largo Winch - Sammelband 1Largo Winch - Sammelband 2

Für Neueinsteiger empfehlen wir die dicken Sammelbände, die jeweils gleich vier Alben beinhalten. Erfreulicherweise sind bei  "Alles Gute", dem Sublabel von "Schreiber und Leser" auch noch alle Einzelbände verfügbar.

Den ersten (Einzel-) Band kann man übrigens hier komplett und kostenlos Online lesen: Link (benötigt Flash)

Frenchman

FrenchmanEin neues Album von Prugne. Und wie Die Herberge am Ende der Welt und Canoe Bay ist auch das wunderschön geworden. Es spielt rund 50 Jahre später als Canoe Bay, wieder in Nordamerika, wo sich europäische Kolonialmächte um Land und Leute streiten, während Indianer als unberechenbare und feindliche Wesen empfunden werden. In diesem Durcheinander macht sich der junge Alban allerdings nicht wegen der Indianer, sondern wegen einer Horde Kopfgeldjäger Gedanken. Sie sind hinter ihm her.

Dabei sollte sich nicht er, sondern Louis durch diese Sümpfe des Mississippi quälen. Der hatte nämlich bei der Musterung die Zahl gezogen, die Einberufung bedeutete. Alban hatte ein Freilos erwischt. Doch der Vater von Louis bot Albans Eltern 2000 Francs, und die Nummern wurden getauscht. Aus seinem lauschigen Dorf in der Normandie ging es per Schiff nach Amerika. Jetzt muss er sehen, wie er aus dieser Nummer wieder rauskommt.

Frenchman - Beispielseite

Seite 4 aus Frenchman, Quelle: Leseprobe bei Splitter

Wer Canoe Bay gelesen hat, weiß, wie ausdrucksstark Prugne Landschaften zeichnen und malerische Atmosphären zaubern kann. Das ist in Frenchman nicht anders, und erzählerisch steht Prugne Szenaristen wie Bourgeon oder Gibrat in nichts nach. Schöööne Zeichnungen, abwechslungsreiche Story, üppige Aufmachung – mal wieder ein rundum starkes Album für Freunde gut erzählter (Abenteuer)geschichten. Der 78seitige Comic wird mit zahlreichen Skizzen und Entwürfen ergänzt.

 

Frenchman
von Patrick Prugne
Splitter
Hardcover, 104 Seiten,in Farbe, 22.80 EUR

Dieser Lesetipp wurde erstellt von Comickunst–dem Weblog mit aktuellen Rezensionen anspruchsvoller Graphic Novels für Erwachsene: http://comickunst.wordpress.com/.

Ein Haus von Frank Lloyd Wright

Ein Haus von Frank Lloyd WrightEine kleine rosa Tulpe als Geburtsmal auf der Haut – das machte Rebecca (oder hieß sie Rosie? Rhonda? Rita? Daisy?? Roberta???) unverwechselbar. Lambert ist sich sicher – nicht des Namens, dazu ist es zu lange her – aber das Mal, das hatte sie.

Leider streitet die Dame, die er da nach Jahrzehnten zufällig in einer verschneiten Straße trifft, ab, so zu heißen, oder ihn zu kennen – und er kann sie ja schlecht darum bitten, das zu beweisen, denn die Tulpe befand sich auf ihrer linken Gesäßhälfte. Er ist längst ein alter Mann und lebt in einem Seniorenheim, und die Dame seines Herzens, seine ehemals große Jugendliebe aus dem Sommercamp, ist im Laufe der Jahre auch nicht jünger geworden. Doch Lambert ist sich sicher, und so bleibt er dran, und sie lädt ihn immerhin zu einem selbstgemachten Eintopf ein. Das ist doch ein Anfang.

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Interview: Sylvain Runberg

Sylvain RunbergWir hatten vor einigen Wochen das Vergnügen, mit dem Autor Sylvain Runberg zu sprechen. Anläßlich des diese Woche erscheinenden neuen Albums "Reconquista – Die Horde der Lebenden", stellen wir Euch hier das Interview zur Verfügung.

1.) Sylvain, Du bist Autor von verschiedenen Comics, wie z.B. Konungar oder Orbital. Wie kamst Du dazu, Comics zu schreiben? Und welche Einflüsse aus Comics, Filmen, Musik oder anderen Kunstrichtungen haben Dich geprägt?

Ich habe schon immer viel gelesen, Comics, Romane, Essays, und ich habe mich mit grafischer Kunst am College beschäftigt und danach Geschichte und Politik studiert. Mehrere Jahre lang habe ich in einem Buchladen gearbeitet, danach war ich in einen Verlag beschäftigt, aber ehrlich gesagt habe ich nie damit gerechnet selbst einmal zu schreiben.

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Comics erleben!

Comictag im Rahmen der Ausstellung "comicleben_comiclife"
19. August 2012 , 12 – 18 Uhr

Ulli Lust, Dietrich Grünewald

Abbildung: © Staatliche Museen zu Berlin; Foto: Ute Franz-Scarciglia

Im Museum Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin
Arnimallee 25, 14195 Berlin, Barrierefreier Zugang über Lansstr. 8

Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene

Workshops, Gesprächsrunden, Signierstunden, eine Comic-Lesung – all das gibt es am großen Comictag im Museum Europäischer Kulturen zu erleben! Im Rahmen der Ausstellung "comicleben_comiclife", lädt der Veranstalter ein, einen Sonntag lang durch Comicwelten zu wandeln!

Programm:

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Chronik einer verschwundenen Stadt

Über Massentourismus und orientalische Lässigkeit.

Chronik einer verschwundenen Stadt

Massentourismus ist eine Pest. Er zerstört soziale und kulturelle Strukturen und stiehlt den Bewohnern der bereisten Gegenden oft auch noch die materielle Lebensgrundlage. Immer wieder werden Menschen aus ihrer gewohnten Umgebung zwangsumgesiedelt, um neben den Sehenswürdigkeiten Platz für noch größere Parkplätze, Souvenirshops und Fastfood-Buden zu bekommen.

Das ist in Ägypten nicht anders. Auch dort schleppen sich Scharen von Touristen in brüllender Hitze durch das Tal der Könige, um die Pyramiden fotografieren zu können. Viel Zeit lassen ihnen die Fremdenführer nicht, denn der Terminplan ist eng, und es stehen weitere Sehenswürdigkeiten auf dem Programm. Die Saïdis – Bewohner des kleinen Wüstenstädchens Qurna unweit von Luxor – sehen diesem Treiben amüsiert zu und bieten den vorbeiziehenden Touristen selbst gebastelte Tücher, Schmuck und Keramik an.

Golo (B. Traven) und Dibou haben viele Jahre in Qurna gewohnt. Sie erlebten hautnah mit, wie die Bewohner den Anforderungen des Massentourismus Stück für Stück weichen mussten. Dazu kam der Stress mit den Archäologen, denen die Dorfbewohner ein Dorn im Auge waren. Schließlich wurden die Saïdis in eine auf dem Reißbrett entstandene Wüstenstadt in 10 km Entfernung umgesiedelt. Danach wurde Qurna mit Baggern platt gemacht.

Golo und Dibou beschreiben das Leben in Qurna, wo im Laufe der Jahre viele ihrer Nachbarn zu Freunden wurden. Menschen, mit denen sie gearbeitet und gefeiert haben. Sie erzählen von der Kultur der Saïdis, zeigen ihren Alltag und beschreiben die Faszination, die diese Ecke der Welt auf sie selber ausgeübt hat. Trotz bitterem Ende ist es ein Album voller Lebensfreude geworden, das auf jeder Seite eine typisch orientalische Entspanntheit transportiert: Möge dein Tag süß wie Honig sein, Partner. Der Klempner ist krank. Inscha´Allah, die Arbeit geht in ein paar Tagen weiter. Gott wird ihn gesund machen.

Lesen und genießen.

 

Chronik einer verschwundenen Stadt
von Golo & Dibou
Avant
Hardcover, 208 Seiten, in Farbe, 24.95 EUR

 
Dieser Lesetipp wurde erstellt von Comickunst–dem Weblog mit aktuellen Rezensionen anspruchsvoller Graphic Novels für Erwachsene: http://comickunst.wordpress.com/.

O’Boys

Anfang 2011 sorgte eine Neuausgabe von "Huckleberry Finn" von Mark Twain in den USA für einige Aufregung: in der Neuedition wurde an über 200 Stellen das Wort "Nigger" entfernt und durch das Wort "Slave"  (Sklave) ersetzt. Wer das Buch nicht kennt, wird einer solchen "Überarbeitung" ev. noch zustimmen. Wer die Bücher jedoch gelesen und den Sinn erfasst hat weiß, dass diese Bücher weit entfernt von rassistischer Literatur stehen. Ganz im Gegenteil. Mark Twain legte großen Wert auf sprachliche Authentizität. So verwendete er lokale Slangs, die Protagonisten sprachen so wie sie es im richtigen Leben taten. Weiterhin sollte man wissen, dass es in Twains Buch über Huck Finn um Freundschaft zwischen einem Weißen und einem Afroamerikaner ging, und gerade Vorurteile aufgelöst wurden.

Der dritte Band des Südstaaten-Abenteuers O'Boys ist gerade bei der ECC erschienen. Falsch verstandene, an der Oberfläche kratzende "Political Correctness" bleibt uns zum Glück in der Comicreihe erspart.
 

O'Boys 3

O'Boys könnte man in Teilen als eine Hommage an die Geschichten von Mark Twain bezeichnen. So heißt die Hauptfigur genau wie in dem Literaturklassiker Huck Finn, und auch einige alt-bekannte Handlungsdetails wurden in die neue Geschichte eingeflochten. So geht es auch hier um Freundschaft und Freiheit, um Rassismus und Überwindung dessen. Allerdings spielt O'Boys in der Mitte der 1930 er Jahre, und greift weitere Aspekte in der Geschichte mit auf: den Blues und die Kultur der Hobos (Wanderarbeiter und Tagelöhner, die mit Zügen als blinde Passagiere das Land durchstreiften). Vorbild für Hucks afroamerikanischen Freund Charley Williams ist der amerikanische Blues Musiker Robert Johnson, dessen Song Cross Road Blues auch titelgebend für den dritten Band der Comicreihe ist.

Hier sein Song "Me And The Devil Blues" in einer restaurierten Version, der als wesentliche Inspiration für die Handlung der Comicgeschichte diente:

 

Die Geschichte überzeugt vor allem durch ihre Stimmung und Atmosphäre, und die vielen genau recherchierten Details. Einen kleinen Einblick erlaubt dieser Trailer:

 

Und auch wenn es hier und da einen kleinen Anschlussfehler in den Zeichnungen gibt (findet selbst heraus, welche das sind ;)), lassen uns die Bilder ganz wunderbar tief in die Südstaaten während der "Großen Depression" eintauchen. Wir begleiten die Protagonisten in einer Zeit, in der ein Menschenleben nicht viel Wert ist in die kleinen Blues-Clubs in den Käffern der Südstaaten, reisen  mit in den Zügen durch Missouri, machen eine Bootspartie auf dem Mississippi, besuchen Memphis, immer auf der Flucht und gleichzeitig auf der Suche u.v.m..  Die gelungene Geschichte pendelt dabei zwischen nostalgischem Charme und harter, realistischer Erzählung, und verzichtet wohltuend auf Kitsch und Melodramatik.

Eigentlich sollte die Geschichte mit dem dritten Band abgeschlossen sein, und die Story findet auch erstmal eine gutes Ende, ein Hinweis auf der letzten Seite deutet aber darauf hin, dass dieser Dreiteiler erst der erste Zyklus war, und ein weiterer folgen wird.

 

O'Boys
von Philippe Thirault und Steve Cuzor
ECC

Band 1: Das Blut des Mississippi
Hardcover, 64 Seiten in Farbe, 13.95 EUR

Band 2: Zwei Katzen auf dem heißen Blechdach
Hardcover, 56 Seiten in Farbe, 13.95 EUR

Band 3: Midnight Crossroad
Hardcover, 56 Seiten in Farbe, 15.00 EUR

 

Der Zauberer von Oz

Nicht nur in Ray Bradburys "Der illustrierte Mann" ist der Autor L. Frank Baum einer der verbotenen Schriftsteller – auch im "richtigen Leben" stand sein Wizard of Oz auf der schwarzen Liste von Büchereien und Pädagogen. Von christlichen Fundamentalisten als Blasphemie ausgerufen, als kommunistisch gebrandmarkt, dann später von einer katholischen Institution doch als die christlichen Werte vermittelnd beurteilt (Kunst und Kultur fungieren doch manchmal wie ein Selbstbedienungsladen, jeder nimmt sich irgendwann mal was er gerade braucht). Von einigen Literaturkritikern als "schlecht geschrieben" betitelt, von Künstlern und Schriftstellern verehrt, und  – jetzt kommt das allerwichtigste – vom Publikum geliebt – ist das vor 112 Jahren erschienene Buch "The Wonderful Wizard of Oz" von L. Frank Baum.

Der Zauberer von Oz

Nun ist auf deutsch die Comicadaption "Der Zauberer von Oz" bei Panini (im Original bei Marvel) erschienen – und um es gleich vorweg zu nehmen – diese ist einfach zauberhaft geworden.

Und ganz im Gegensatz zum derzeitigen Trend, alte Klassiker neu in aufgebretzelter und manchmal überproduzierter Form herauszubringen, ist die vorliegende Comicadaption eher eine Rückkehr zu den Wurzeln der Geschichte, eine  vergleichsweise werkgetreue Umsetzung der Romanvorlage.

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3 Sekunden, 37 Reflexionen

Marc-Anthoine Mathieu gilt seit rund 20 Jahren als Koryphäe des analytischen Comics, d.h., in jedem neuen Werk widmet er sich einer selbst gestellten Aufgabe, zumeist einem Mix aus inhaltlichem und formalem Spiel, das die Grenzen (-losigkeit) des Mediums neu auslotet und es damit bereichert. Die dargestellte gesellschaftliche Wirklichkeit bekommt durch Mathieus Steigerung ins Absurde oft eine neue, philosophische Wahrheit.

3 Sekunden

In seinem neuesten Werk 3 Sekunden zeigt er meisterlich und mit schlitzohrigem Humor, wie eine dramatische Szene – ein Mann richtet seine Waffe auf den Hinterkopf eines anderen – aus unterschiedlichen visuellen Perspektiven immer neue Bedeutung gewinnt. Wie eine Kamera zoomt er immer näher an das Objekt heran (so nah allerdings, wie es keine Linse schaffen würde), bis sich durch eine Reflexion – zum Beispiel in der Pupille einer Figur – ein neuer Blickwinkel auf die Szene oder deren Umgebung ergibt.

Das Prinzip setzt sich fort: überall lauern neue Reflexionen, etwa in einer Armbanduhr, einem Kaffeelöffel, der Zahnkrone eines grotesk auflachenden Mannes oder einer vorbeiziehenden Kugel. Geradezu genial choreographiert Mathieu diese Spiegelungen, verlässt mit ihnen seinen Schauplatz, um andere, unerwartete Orte zu entdecken und weitere rätselhafte Vorgänge zu streifen. Dabei entgleitet ihm nie die Handlung, auf jeder Seite dieser atemlos ablaufenden Geschichte, die eigentlich nur drei Sekunden dauert, warten neue Finten und Überraschungen.

37 Spiegelungen habe ich – ohne Gewähr – gezählt, die in Mathieus typischen harten Schwarz-Weiß-Kontrasten gezeichnet sind, perfekt zu den dramatischen Vorgängen passend.

Kleiner Tipp: Das Entziffern der zumeist spiegelverkehrten Aufschriften steigert noch den Genuss des Lesens, dabei sind interessante Indizien und Zusammenhänge zu entdecken. Ansonsten gelingt es Mathieu, seine Geschichte mit einer Ausnahme vollkommen ohne Sprechblasen zu erzählen.

Kurzum: Ein ganz besonders hochwertiges Lesevergnügen der intelligenten Art, das den Betrachter in den Sog der Geschehnisse reinzieht und detektivisch Spuren suchen lässt.

3 Sekunden
von Marc-Antoine Mathieu
Reprodukt
Softcover, 80 Seiten, s/w, 18.- EUR

Leseprobe bei Reprodukt

Webseite zu 3 Sekunden

Trailer zur französischen Ausgabe:

 

Über den Rezensenten: Ralph Trommer ist Autor von Kurzgeschichten, Drehbüchern und Animationsfilmen. Er taucht gerne in die faszinierende Welt der Comics ein.

Vortrag über Reaktionen nach 9/11 im Comic

Vortrag von Lars von Törne – Termin: Donnerstag, 26. Juli 2012, 19 Uhr – Museen Dahlem

In the shadow of no towers

Lars von Törne, Journalist und Comic-Kenner gibt einen Überblick über die Reaktionen von Comiczeichnern auf die Anschläge des 11. September 2001. Ob Art Spiegelmans Comic-Collage "Im Schatten keiner Türme" oder Sid Jacobsons und Ernie Colóns Graphic Novel "After 9/11" – auf ganz unterschiedliche Weise wurden die Anschläge von 2001, die Veränderungen in der politischen Landschaft und der "Krieg gegen den Terror" im Comic reflektiert. Die Comics visualisieren ein Geschehen, das lange als unvorstellbar galt und kommentieren so die politische Zeit, in der wir leben.

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Auf zum Kerguelen-Archipel!

Zurück vom Nordpol und aus Portugal  kommen wir nun zum nächsten Superlativ der Comicnovitäten:

Reise zum Kerguelen Archipel

Mitten im Nirgendwo, im Dreieck zwischen Afrika, Australien und der Antarktis liegen die Kerguelen-Inseln.


Größere Kartenansicht

Einmal im Jahr macht sich das Versorgungsschiff Marion Dufresne auf die Reise zur Antarktis. 2010 nahm die Dufresne den Passagier Emmanuel Lepage, uns bestens bekannt für seine wunderbaren Comicbücher "Muchacho" (dt bei Carlsen) und "Oh, diese Mädchen" (dt. bei Splitter) mit an Bord.

Jetzt ist im Splitter-Verlag der "Reisebericht" Lepages erschienen – natürlich als Comic. Auf 160 Seiten im Albenformat übermittelt Lepage uns hier seine Impressionen. Das Ergebnis ist überwältigend und außergewöhnlich. Der Zeichenstil wechselt häufig, mal schwarz/weiß, dann farbig, mal skizzenhaft, dann wieder malerisch. Zwischen den Bildsequenzen gibt es immer wieder atemberaubende große, ganz- oder doppelseitige Einzelbilder. Aber der Band hat nicht nur visuelle Reize, sondern ist auch unser Lesetipp für diesen Sommer – für alle, die noch etwas entdecken wollen.

Hier einige Impressionen aus dem Band:

 

Reise zum Kerguelen-Archipel
von Emmanuel Lepage
Splitter
Hardcover, 160 Seiten, 29.80 Euro

 

Weitere Informationen über die Reise findet Ihr auch hier:

http://cap-sur-les-terres-australes.over-blog.com/

 

Mach´s gut, Chunky Rice

Mach's gut, Chunky Rice

Chunky Rice ist eine Schildkröte. Er ist in die Maus Dandele verliebt, und Dandele liebt ihn auch. Soweit wäre also alles im grünen Bereich, wenn Chunky nicht unbedingt zu den Kahootney-Inseln reisen müsste –  Rückkehr ungewiss. Dadurch wird ihre letzte gemeinsame Nacht, die sie ganz romantisch in einem Zelt am Meer verbringen, traurig und melancholisch. Doch ein Mann muss gehen, wohin er eben gehen muss, und als Chunky sich schließlich auf den Weg macht und von dem Schiff auf die ihn von seiner Liebsten trennenden Wellen schaut, wird ihm ganz einsam ums Herz.

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