Liebe Entdecker, anspruchsvolle Comics gibt es nicht nur unter den Graphic Novels – es ist mal wieder Zeit, eine Perle zu präsentieren. Der Berliner Piredda-Verlag hat den ersten Band der auf zwei Teile angelegten Serie Wahligoe herausgegeben. Dahinter verbirgt sich eine kleine, aber feine Charakter getriebene Mystery-Geschichte, wie man sie besser kaum umsetzen könnte.
Wahligoe ist ein Kaff in Schottland. Pub-Kultur und Hahnenkämpfe scheinen dort die Höhenpunkte des kulturellen Lebens der im 19. Jahrhundert angesiedelten Geschichte zu sein. Eines Nachts verirren sich ein ausgebrannter Schriftsteller und seine nicht weniger frustrierte Mätresse in die Ortschaft, um dort Bekanntschaft mit den teilweise schrulligen Dorfbewohnern und scheinbar übernatürlichen Phänomenen zu machen.
Das klingt jetzt zuerst nach Mysterie der Sorte "Standard Deluxe", führt jedoch erfreulicher Weise weit darüber hinaus. Dafür sorgen zum einen die hervorragenden Zeichnungen, sowie die mitunter köstlichen Dialoge zwischen den Protagonisten.
Es gibt nicht viele Frauen unter den frankobelgischen Comicschaffenden. Eine davon heißt Virginie Augustin, und ich bin ihr Fan. Auf deutsch liegen aus der Feder der Dame die Serie "Alim der Gerber" (Splitter) und der One-Shot "Das Schattenreich von Troy" (Splitter) vor.
Augustin arbeitete vor Ihrer Comickarriere als Zeichnerin bei den Disneystudios und arbeitete beispielsweise als Hintergrunddesigner an dem Filmen Hercules (1997) und Tarzan (1999), und bei der Animation von La cour secrète des Arcanes (basierend auf Hugo Pratts "Corto Maltese in Sibirien", 2002) mit.
Ab 2004 arbeitete die Künstlerin zusammen mit dem Autoren Lupano an der Fantasy Serie "Alim, der Gerber". Während die Alben auf den ersten Blick noch stark an Disney-Produktionen erinnern, sind sie inhaltlich schon bereits ein anderes Kaliber, und gehen weit über reines Feelgood-Family-Entertainment hinaus. Die Serie erzählt die Geschichte eines Vaters und seiner Tochter, die zum Spielball zwischen Staat und Religion werden. Vordergründig ein 1001-Nacht Märchen entspinnt sich eine subtile Geschichte, die trotz der fantastischen Kulisse nicht weniger Lebensnähe bietet als so manche Graphic Novel. Sicherlich ist diese auch die Leistung des Autors Wilfrid Lupano, der auch mit seinem tiefschwarz-humorigen Western "Der Mann, der keine Feuerwaffen mochte" sein Talent unter Beweis gestellt hat. Wer Alim noch nicht kennt – die Serie liegt komplett in vier Bänden vor und ist absolut empfehlenswert.
Nach "Alim" arbeitete Augustin mit mehreren anderen Künstlern an "Sur les traces de Luuna", einem Spin-Off zu Luuna (Luuna erschien bei Splitter, das Spin-Off liegt nicht auf Deutsch vor). Es folgte "Das Schattenreich von Troy", das nicht nur ein wunderbares Cover hat und fantastisch koloriert ist, sondern auch Einflüsse des jüngeren französischen Comics zeigt. Augustin arbeitete hier mit Starszenarist Scotch Arleston zusammen, und schuf einen wunderbaren, schwarzhumorigen Comic, den wir hier in 2011 auch als einen der besten Comics des Jahres 2011 gewürdigt haben.
Das neueste Werk ist nun das frisch erschienene Whaligoe, und es ist eine Freude zu sehen, wie sich Augustin seit Ihrer Disneykarriere weiter entwickelt hat. Augustin zeichnet mit Verve. Sie hat ein tolles Gespür für Perspektiven und Blickwinkel, für das Überzeichnen von Charakteren und Mimiken. Der Band ist voller schöner Details, etwa wenn sich Gesichter im Schatten zu wütend funkelnder Mimik verwandeln, oder wenn ein Haus, das von außen aussieht wie eine kleine Bauernkate, innen Platz für eine Hahnenkampf-Arena mit 500 Zuschauern bietet. Da wird auch mal wunderbar respektlos mit der Realität umgegangen. Schließlich ist es ein Comic, und wer da ruft "geht ja garnicht" hat Pech gehabt. Die facettenreiche Geschichte wurde von keinem geringeren als Yann geschieben.
Autor Yann ist Tausendsassa. Er schreibt vor seinem Background als Künstler des Spirou-Magazins Funnies und Semi-Funnies ("Helden ohne Skrupel", Finix; "Die Weiße Tigerin", Schreiber und Leser), beide zusammen mit dem neuen Asterixzeichner Conrad, Krimis, aber auch Antikriegscomics wie "Der große Uhu" (mit Hugault, Salleck). Unter dem Pseudonym Balac schrieb er düster, romantisch und melacholisch für die Familiensaga "Sambre" (von Yslaire, Carlsen), und nicht weniger wunderbare Serie "Das Geschlecht derer von Porphyre" (mit Parnotte, Salleck).
Whaligoe geht hier eher in die Richtung der letztgenannten poetischen Werke, die unter dem Pseudonym Balac entstanden sind. Yann und Augustin ergänzen sich hier wunderbar.
Wahligoe 1 – Die Ankunft
von Virginie Augustin und Yann
Piredda Verlag
Hardcover, 48 Seiten, farbig, 13.00 EUR
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